Eine neue Ära der Empathie im Umgang mit Patient:innen

Eine neue Ära der Empathie im Umgang mit Patient:innen

DATUM

12. September 2024

AUTOR

Clarinda Cerejo

„Ich möchte eine Ärztin, die sich ein wenig Zeit nimmt, um einem etwas zu erklären und die ein bisschen Einfühlungsvermögen zeigt.”

„Ich fing an zu weinen, weil ich es nicht verkraften konnte. Und dann sagte er (der Arzt) im Nachhinein: ‘Ja, tut mir leid für die schlechte Nachricht’.”

„Der Arzt war sehr praktisch, aber völlig unempathisch.”

„Manchmal weiß die Patientin mehr über ihren eigenen Fall als die Ärztin mit ihren Büchern und ihrem strukturierten medizinischen Wissen. Aber die Ärzt:innen akzeptieren bzw. würdigen das nicht.“

„Es gibt keine Unterstützung für die Familienmitglieder, richtig? Sie sagen nur: ‘Setzen Sie sich draußen hin. Wenn die Ärztin kommt, sagen wir Ihnen Bescheid. Stören Sie uns nicht’.“

„Das Krankenhauspersonal kennt sich vielleicht nicht gut genug mit einigen Verfahrensvorschriften aus, widerspricht sich gegenseitig und lässt Sie herumlaufen.“

Dies sind einige Zitate von Patient:innen/Betreuer:innen, die ich für einen Artikel über die Patient:innenperspektive interviewt habe, der kürzlich in Current Medical Research and Opinion veröffentlicht wurde. 

Die Karte der Patientenreise, die ich anhand von Interviews und meiner eigenen Erfahrungen als Patientin mit einer seltenen Krankheit und mehreren chronischen Krankheiten erstellt habe, zeigt, dass Stress eine der auffälligsten und am längsten anhaltenden Emotionen ist. 

Patient:innen mit chronischen und/oder schwerwiegenden Erkrankungen erleben Stress, wenn sie auf eine Diagnose warten, Behandlungsentscheidungen treffen oder sich im Krankenhaus befinden.

Es ist daher nicht überraschend, dass Einfühlungsvermögen zu den wichtigsten Bedürfnissen der von mir befragten Patient:innen/Pflegekräfte gehört.

Was ist klinische Empathie?

Das Oxford-Wörterbuch definiert „Empathie“ als die Fähigkeit, die Gefühle oder Erfahrungen anderer Menschen zu verstehen und zu würdigen. In der medizinischen Praxis wird klinische Empathie definiert als „die Fähigkeit, die persönliche Erfahrung des Patienten zu verstehen, ohne sich mit ihm zu identifizieren“. Sie wird auch verstanden als „die Fähigkeit, Emotionen bei anderen zu beobachten, die Fähigkeit, diese Emotionen zu fühlen und schließlich die Fähigkeit, auf diese Emotionen zu reagieren“. Die letztgenannte Definition von Empathie umfasst auch das Mitgefühl, bei dem es darum geht, „Maßnahmen zu ergreifen als Reaktion auf Empathie“.

Wenn eine medizinische Fachkraft Einfühlungsvermögen und Mitgefühl zeigt, fühlen sich Patient:innen sicher und wohl genug, um ihre Gedanken, Fragen und Sorgen mit der Fachkraft zu teilen.

Klinisches Einfühlungsvermögen ermöglicht es Patient:innen, sich bestätigt zu fühlen und zu erkennen, dass ihre Krankheitserfahrung real und wichtig ist. Dies macht Empathie zu einem der grundlegendsten und wichtigsten Instrumente, die in dem medizinischen Behandlungsverhältnis von Ärzt:in und Patient:in eingesetzt werden können, um die gewünschten Patientenergebnisse zu erzielen. 

Andererseits gilt auch, dass eine tiefe emotionale Bindung zwischen Ärzt:in und Patient:in die eigene Objektivität und Rationalität bei der klinischen Entscheidungsfindung beeinträchtigen kann. Daher erfordert die klinische Empathie die Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen, bei der die Ärztin die Gefühle der Patientin versteht, jedoch diese Gefühle nicht als die eigenen ansieht.

Warum diskutieren wir erst jetzt über Empathie?

In der Unternehmens- und Führungsentwicklung scheint Empathie in den letzten Jahren zu einem Schlagwort oder Trend geworden zu sein. Empathie am Arbeitsplatz wird in vielen Business-Podcasts und Führungszeitschriften ausführlich diskutiert.

In kaum einer anderen Branche hat Empathie am Arbeitsplatz einen so hohen Stellenwert wie im Gesundheitswesen.

Patient:innen müssen mit Einfühlungsvermögen und Mitgefühl behandelt werden. 

Dies scheint eine offensichtliche Aussage zu sein, die als zeitlose und universelle Wahrheit anerkannt werden sollte.

Wie auch in anderen Branchen hat das Gesundheitswesen jedoch erst in den letzten zehn Jahren damit begonnen, die Diskussion über Empathie im Umgang mit Patient:innen in den Mittelpunkt zu stellen. Mehrere in den letzten Jahren veröffentlichte Publikationen zielen darauf ab, klinische Empathie und ihren Umfang sinnvoll zu definieren, die Vorteile und Hindernisse für Empathie in der klinischen Praxis zu skizzieren und ihre Auswirkungen zu bewerten

Branchendiskussionen über Empathie lassen sich gut mit den umfassenderen Gesprächen über Patientenzentrierung verbinden, die in den letzten Jahren ebenfalls zugenommen haben. Die jüngste Aufnahme von Empathie und Patientenzentrierung im Sprachgebrauch der Industrie ist in der Tat ein wichtiger Ausgangspunkt. Dennoch haben wir noch einen langen Weg vor uns, bis Empathie in der klinischen Interaktion mit Patient:innen alltäglich wird. 

Warum fehlt es in klinischen Interaktionen an Empathie?

Es wird angenommen, dass Empathie nicht nur die Zufriedenheit der Patient:innen, sondern auch die Zufriedenheit der Ärzt:innen mit ihrer Arbeit verbessert. 

Warum also ist sie in der Praxis nicht allgegenwärtig?

In einer aktuellen Folge des Podcasts „Not Just Patients“, den ich mitmoderiere, erörtert Dr. Victor Montori, Professor für Medizin an der Mayo Clinic und Experte für gemeinsame Entscheidungsfindung, die Voraussetzungen für eine sorgfältige und freundliche Pflege für alle. 

Er argumentiert, dass in der Industrialisierung des Gesundheitswesens, in der Patient:innen wie Waren in einer Fabrik verarbeitet werden, das Herzstück der Gesundheitsversorgung – nämlich die Pflege – verloren geht.

Laut Dr. Montori gehört zur Pflege, vor allem bei chronischen Krankheiten, dass die Ärztin versteht, woher die Patientin kommt – ihre Hoffnungen und Träume, Werte und Vorlieben – und dass sie Gespräche in Ruhe führt, um einen Behandlungsplan zu erstellen, der in das Leben der Patientin passt.

Er glaubt, dass junge Menschen, die ein Medizinstudium beginnen und Ärzt:innen werden wollen, ihr Herz am rechten Fleck haben und von Natur aus einfühlsam sind. Da aber in der medizinischen Ausbildung technische Fähigkeiten gegenüber allen anderen Fähigkeiten betont und belohnt werden, haben diese Medizinstudent:innen, wenn sie Ärzt:innen werden, etwas von dem Einfühlungsvermögen und Mitgefühl verloren, das sie zu Beginn hatten. 

Außerdem beschreibt Dr. Montori, wie die Kapazitäten des medizinischen Systems überlastet sind, weil die Menschen die Kunst der Selbstpflege und der gemeindenahen Versorgung verloren haben.

Kann man Empathie lehren?

Ja, das kann man!

Die Ausbildung von medizinischem Fachpersonal in Empathie erfordert jedoch ein komplexes Gleichgewicht zwischen pädagogischen Kursen, Rollenmodellierung und der Schaffung einer Kultur, in der Empathie geschätzt und gefeiert wird. 

Eine Umfrage an medizinischen Fakultäten im Vereinigten Königreich ergab, dass zwar eine gewisse Form der Empathieausbildung in den Lehrplan des Grundstudiums aufgenommen wurde. Jedoch wird die Kultivierung von Empathie nicht wirklich bewertet und die Ausbildenden glauben, dass noch viel mehr getan werden kann.

Außerhalb der medizinischen Fakultäten bieten einige Organisationen wie “The Patient Revolution” unter der Leitung von Dr. Montori Kurse und Stipendienprogramme an, die Patient:innen und andere an der Gesundheitsversorgung Beteiligte darin schulen, das Konzept der sorgfältigen und freundlichen Pflege für alle zu verstehen und anzuwenden. Ziel dieser Schulungen ist es, die Gesundheitsversorgung von einer „industriellen Tätigkeit in eine zutiefst menschliche zu verwandeln“.

Kann GenAI dabei helfen?

Die Gesundheitsbranche erforscht mit großem Interesse das transformative Potenzial der generativen künstlichen Intelligenz (GenAI) und ihre möglichen Anwendungen.

Doch welche Anwendungen könnte GenAI möglicherweise haben, um Empathie zu fördern – die menschlichste aller Eigenschaften?

Mehr als man sich vorstellen kann – zumindest laut einiger aktueller bahnbrechender Studien.

In einer JAMA-Studie wurden die Antworten von Ärzt:innen mit KI-generierten Chatbot-Antworten (ChatGPT Version GPT3.5) auf 195 Patientenfragen im Reddit-Forum r/AskDocs verglichen. Die Antworten wurden dreimal unabhängig voneinander von einem Team aus zugelassenen medizinischen Fachkräften bewertet. Die Ergebnisse zeigten, dass die Bewerter:innen die Chatbot-Antworten bevorzugten und sie sowohl hinsichtlich der Qualität als auch des Einfühlungsvermögens deutlich höher bewerteten als die Antworten der Ärzt:innen.

Eine andere Studie – eine Vorabveröffentlichung in arXiv (noch nicht begutachtet) – zeigt, dass die für das Gesundheitswesen optimierte KI von Google mit der Bezeichnung AMIE in mehreren Parametern, darunter Kommunikationsfähigkeiten und Einfühlungsvermögen, besser abschnitt als Ärzt:innen in der Grundversorgung.

Auch wenn diese Studien einige Einschränkungen aufweisen und ihre Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren sind, weisen sie doch auf das große Potenzial von GenAI hin, das Gesundheitssystem ironischerweise menschlicher zu machen.

Welchen Stellenwert haben Empathie und Mitgefühl in klinischen Studien?

Einfühlungsvermögen wird als entscheidender Erfolgsfaktor in klinischen Studien bezeichnet.

Empathie in klinischen Studien geht weit über die Interaktion zwischen Ärztin und Patientin hinaus und beginnt bereits während der Studienplanung. 

In zwei separaten Folgen von „Not Just Patients“ erzählen Bronwyn Lewis, Global Head of Patient Engagement bei Boehringer Ingelheim sowie Robert Joyce, ein Patientenexperte, der sich für die Einbindung von Patient:innen in die klinische Forschung einsetzt, Geschichten, die zeigen, wie die Einbeziehung von Patient:innen in die Planung klinischer Studien dazu führen kann, dass die Studie die Bedürfnisse der Patient:innen besser berücksichtigt – und einfühlsamer ist: 

Die klinische Forschung profitiert in hohem Maße von der Einbeziehung von Patient:innen. In beiden oben genannten Fällen wäre der tatsächliche Bedarf der Patient:innen nie erkannt worden, wenn die Patient:innen nicht in die Studienplanung einbezogen worden wären.

In klinischen Studien können teilnehmende Patient:innen durch lange oder schwierige Anfahrtswege zum Prüfzentrum, unklare Informationen über die Prüfverfahren und die zu erwartenden Ergebnisse, unzureichende Vorkehrungen für körperliche Einschränkungen und/oder die Verwendung von Ergebnismessungen unter Stress stehen.

In einem LinkedIn-Post wird ein inzwischen verstorbener Patient beschrieben, der früher in der Pharmaindustrie tätig war und sich nicht nur sehr gut mit klinischen Studien auskannte, sondern auch bereits Teilnehmer in einer Studie war. Zu seiner Enttäuschung hatte er das Gefühl, eher als Versuchsperson behandelt zu werden anstatt als Patient. Zudem waren die Prüfarzt:innen eher damit beschäftigt, die Rekrutierungsziele zu erreichen, als auf seine Bedürfnisse einzugehen. 

In einer von Climedo durchgeführten Patient:innenbefragung wurde „mehr Einfühlungsvermögen, Sensibilität und Wertschätzung seitens des Personals“ gleichauf mit „weniger Zeitaufwand“ als zweitwichtigster Faktor genannt, der die Wahrscheinlichkeit erhöhen würde, dass Patient:innen in Zukunft an einer Studie teilnehmen.

Einfühlungsvermögen bei der Gestaltung von Studien setzt voraus, dass die Forschenden die Menschen hinter den Proband:innen verstehen und sich in die Lage der Patient:innen versetzen. Dies kann eine Kombination von Maßnahmen beinhalten, wie z. B. die folgenden, die die Bedürfnisse und Präferenzen der Patient:innen sorgfältig berücksichtigen:

Wie geht es jetzt weiter?

Klinisches Einfühlungsvermögen ist die Grundlage guter medizinischer Praxis und ein Ideal, das sowohl für Patient:innen als auch für Vertreter:innen des Gesundheitswesens und der Industrie von allgemeinem Nutzen ist. Als Konzept wird es mehr denn je als Schlüsselkomponente der Patient:innenzentrierung diskutiert. Diese Diskussionen sind sehr zu begrüßen. Doch nun muss die Empathie ihren Weg von der Literatur und den Diskussionen in jedes Sprechzimmer und jede klinische Prüfstelle finden. 

Die Teilnahme an einer klinischen Studie ist in der Regel ein Vertrauensvorschuss, den Patient:innen in einer sehr schwierigen Phase ihres Lebens eingehen. Im Gegenzug kann das Studienpersonal die Patientenbedürfnisse in den Vordergrund stellen und bei der Gestaltung der Studie sowie der Zusammenarbeit Empathie zeigen. Das verbessert nicht nur die Erfahrungen der Patient:innen, sondern auch die Teilnahme, die Bindung an die Studie und die Erfolgsaussichten. 

Wenn KI, die auf der Grundlage menschlicher Eingaben trainiert wurde, Empathie zeigen kann, dann können Menschen im Gesundheitswesen dies sicherlich auch.

Clarinda Cerejo

Clarinda Cerejo

Clarinda ist eine EUPATI-zertifizierte Patientenexpertin, der die Patientenbeteiligung sehr am Herzen liegt und die den Podcast „Not Just Patients“ mitmoderiert. Ihr Ziel ist es, die Stimme der Patient:innen und eine sinnvolle Patientenbeteiligung im Gesundheitswesen zu fördern.

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