Neue Regeln für den Marktzugang von In-vitro-Diagnostika: Wie unterscheiden sich die alte IVDD und neue IVDR?

Neue Regeln für den Marktzugang von In-vitro-Diagnostika: Wie unterscheiden sich die alte IVDD und neue IVDR?

DATUM

20. April 2022

AUTOR

Benjamin Sauer | VP Engineering

Immuno- und PCR-Assays, Geräte zur Blutzuckermessung oder für humangenetische Analysen – diese und viele weitere Medizinprodukte gehören zu den sogenannten In-vitro-Diagnostika (IVD). Dafür hat die Europäische Union die neue Verordnung 2017/746 (IVDR) erlassen, die am 26. Mai 2017 in Kraft trat und nun, nach einer fünfjährigen Übergangsfrist, ab dem 26. Mai 2022 schrittweise gültig wird. Sie löst die bisherige Richtlinie 98/79/EC – kurz IVDD – ab und ändert die regulatorischen Anforderungen für die Zulassung von IVD in der EU ganz signifikant. Unter anderem setzt sie höhere Standards für Qualität, Leistung und Sicherheit der Produkte. 

In diesem Artikel stellen wir die wesentlichen Unterschiede zwischen alter IVDD und neuer IVDR vor und zeigen deren Auswirkungen auf den Zertifizierungsprozess von In-vitro-Diagnostika auf.

Worum geht’s? – 7 Neuerungen der IVDR 

1. Umstellung auf ein risikobasiertes Klassifizierungssystem

2. Änderungen bei der Konformitätsbewertung

3. Strengere Vorgaben für die Technische Dokumentation

4. Umsetzung einer einmaligen Produktnummer

5. Qualitätsmanagementsystem für IVD-Hersteller

6. Konkrete Anforderungen an die Software

7. Ernennung einer verantwortlichen Person

1) Umstellung auf ein risikobasiertes Klassifizierungssystem

Eine der bedeutendsten Neuerungen der IVDR ist die Einführung eines veränderten Klassifizierungssystems für In-vitro-Diagnostika. In der IVDD wurde nur eine kleine Anzahl an Produkten in zwei Listen mit höherer Risikoeinschätzung eingeordnet. Der große Rest firmierte als „other IVD-Products“, für die die Hersteller ein selbstverantwortetes Konformitätsbewertungsverfahren zur Zertifizierung des Diagnostikums durchführen und die Produkte dann auf Basis einer Herstellerselbsterklärung mit dem CE-Zeichen in Verkehr bringen konnten. Im Gegensatz dazu definiert die neue IVDR vier verschiedene Klassen:

Klasse AGeringstes Risiko, z.B. Waschlösungen oder Geringstes Risiko, z.B. Waschlösungen oder Probenbehältnisse
Klasse BGeringes bis mittleres Risiko, z.B. Schwangerschaftstests zur Eigenanwendung
Klasse CMittleres bis hohes Risiko, z.B. Produkte für die Krebsvorsorge
Klasse DHöchstes Risiko, z.B. HIV-Tests


Hersteller sind dafür verantwortlich, ihre Produkte diesen Kategorien nach 7 Klassifizierungsregeln korrekt zuzuteilen. Da nun sowohl mehr Regeln als auch mehr Klassen zu beachten sind, werden nach IVDR nur noch 10 bis 20% der Produkte in die Klasse mit dem geringsten Risiko eingestuft. Geringstes Risiko, z.B. Waschlösungen oder Probenbehältnisse.

2) Änderungen bei der Konformitätsbewertung

Die IVDR sieht nur noch drei Konformitätsbewertungsverfahren vor:

Produkte der Klasse ADiese bleiben weiterhin in der Verantwortung der Hersteller, die Zulassung erfolgt auf Basis der Technischen Dokumentation über eine Eigenkonformitätserklärung.
Produkte der Klassen B bis DDiese können nur im Rahmen eines vollständigen Qualitätssicherungssystems in Verkehr gebracht werden.
AlternativHersteller können ein Konformitätsbewertungsverfahren wählen, das eine Baumusterprüfung und eine Qualitätssicherung für die Produktion umfasst.


Die Durchführung des Konformitätsbewertungsverfahrens für Produkte der Klassen B bis D erfordert die Mitwirkung einer Benannten Stelle. Dies betrifft etwa 90% aller IVD-Hersteller. Die Anzahl der Stellen ist jedoch reduziert, da es für ihre Benennung und Überwachung zugleich höhere Anforderungen gibt. Eine fortlaufend aktualisierte Liste von Benannten Stellen für die neue IVDR-Zertifizierung finden Sie hier.

3) Strengere Vorgaben für die Technische Dokumentation

Mit der IVDR wird die Technische Dokumentation detaillierter: Hersteller müssen klinische Leistungsstudien durchführen und nachweisen, dass ihre Produkte hinsichtlich Sicherheit und Leistung der jeweiligen Risikoklasse entsprechen. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass sich präzise Angaben dazu in der Technischen Dokumentation wiederfinden. Im Rahmen der fortlaufenden Bewertung der potenziellen Sicherheitsrisiken sind Hersteller zudem verpflichtet, klinische Daten zu erheben und aufzubewahren.


4) Umsetzung einer einmaligen Produktnummer

Die neue EU-Verordnung sieht die Einführung einer einmaligen Produktnummer (Unique Device Identification, UDI) für In-vitro-Diagnostika vor. Durch diese Kennzeichnung will die Europäische Union die Rückverfolgbarkeit der Produkte innerhalb der Lieferkette verbessern. So sollen IVD, die ein Sicherheitsrisiko darstellen, schnell und effizient zurückgerufen werden können. Zudem sind die UDI sowie weitere Daten, beispielsweise zu Hersteller und Produkt, in der EUDAMED-Datenbank zu hinterlegen.

5) Qualitätsmanagementsystem für IVD-Hersteller

Auch wenn die neue IVDR nur bei Konformitätsbewertungsverfahren für Produkte der Kategorien B bis D die Zertifizierung durch eine Benannte Stelle verlangt, wird erwartet, dass alle Hersteller eines IVD über ein Qualitätsmanagementsystem verfügen. Die Anforderungen daran sind umfassend: Unter anderem muss es Organisation, Prozesse, Verantwortlichkeiten und Strategie behandeln. Auch das Erheben von Ansprüchen, Ressourcen- und Risikomanagement, die Bewertung der Leistungsfähigkeit der Produkte und die UDI müssen abgedeckt sein. Zudem führt die Benannte Stelle mindestens alle fünf Jahre ein unangekündigtes Audit des zertifizierten QM-Systems durch.

6) Anforderungen an die Software

Im Gegensatz zur IVDD formuliert die neue IVDR konkrete Anforderungen an die eingesetzte Software:

7) Ernennung einer verantwortlichen Person (PRRC)

Die IVDR verlangt zudem die Bestimmung einer „für die Einhaltung der Regulierungsvorschriften verantwortlichen Person“, Englisch „Person responsible for regulatory compliance (PRRC)“. Somit müssen Hersteller mindestens eine:n Mitarbeiter:in in ihrem Unternehmen benennen, um die Einhaltung der Anforderungen zu kontrollieren.

Fazit: Höhere Standards bedeuten Mehraufwand für Hersteller

Die neue IVDR führt wesentliche Neuerungen wie die Umstellung von einem listen- auf ein risikobasiertes Klassifizierungssystem ein und will damit die Patientensicherheit verbessern. Sie erhöht die Ansprüche an die involvierten Prozesse und Akteure in vielen Bereichen deutlich. Um alle Anforderungen zu erfüllen, müssen IVD-Hersteller viel Zeit, Ressourcen und Finanzmittel investieren. Die schrittweise Einführung mit verlängerten Übergangsfristen für bestimmte Produkte dürfte jedoch nur für eine gewisse Entlastung bei Hersteller sowie Benannten Stellen sorgen.

Bei einer Umfrage, die wir zusammen mit dem Auftragsforschungsinstitut TRIGA-S Scientific Solutions zum Stand der Umsetzung der IVDR-Anforderungen durchgeführt haben, hat sich gezeigt, dass die Anforderungen den meisten Unternehmen bereits klar sind, jedoch der Großteil noch mitten in der Vorbereitung steckt.

Die mit der IVDR einhergehende Einführung höherer Standards hinsichtlich Sicherheit, Qualität, Leistung und Transparenz bleibt eine herausfordernde Aufgabe – auch über die Zulassung der Produkte hinaus.

Als EDC-System kann unsere digitale Lösung Sie bei der Überwachung der IVD nach dem Inverkehrbringen unterstützen. Sprechen Sie uns gerne an oder vereinbaren Sie eine Software-Demo

Benjamin Sauer | VP Engineering

Benjamin Sauer | VP Engineering

VP Engineering mit der Mission, möglichst intelligente und benutzerfreundliche Software zu entwickeln, die den Alltag vereinfacht. Außerhalb der Arbeit Kampfsportler, Cineast, Rennradfahrer und Pflanzenliebhaber.

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